Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts
Besoldungsvorschriften des Landes Nordrhein-Westfalen zur Alimentation von kinderreichen Richtern und Staatsanwälten teilweise verfassungswidrig
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Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit dem am 29.07.2020 veröffentlichtem Beschluss entschieden, dass die Besoldungsvorschriften des Landes Nordrhein-Westfalen, mit dem von Art. 33 Abs. 5 GG gewährleisteten Alimentationsprinzip unvereinbar sind, soweit sie die Besoldung kinderreicher Richter und Staatsanwälte der Besoldungsgruppe R 2 in den Jahren 2013 bis 2015 regeln.
ie den Richtern und Beamten ab dem dritten Kind gewährten Zuschläge müssen ihr Nettoeinkommen so erhöhen, dass ihnen für jedes dieser Kinder mindestens 115 % des grundsicherungsrechtlichen Gesamtbedarfs nach dem SGB II zur Verfügung steht. Der Gesetzgeber des Landes Nordrhein-Westfalen hat spätestens zum 31. Juli 2021 eine verfassungskonforme Regelung zu treffen.
Sachverhalt:
Die Kläger der Ausgangsverfahren stehen als Richter mit Dienstbezügen der Besoldungsgruppe R 2 im Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen. Der Kläger eines Verfahrens ist verheiratet und erhielt im Jahr 2013 für drei Kinder Kindergeld. Die beiden anderen Verfahren betreffen einen Kläger, der ebenfalls verheiratet ist und in den Jahren 2014 und 2015 für vier Kinder Kindergeld erhielt. Die Kläger machen geltend, dass ihre Besoldung im Hinblick auf ihre Kinderzahl verfassungswidrig zu niedrig bemessen sei. Das Verwaltungsgericht Köln hat die Verfahren ausgesetzt und dem Bundes-verfassungsgericht diese Frage zur Prüfung vorgelegt.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
I. Die Besoldungsvorschriften des Landes Nordrhein-Westfalen sind mit dem von Art. 33 Abs. 5 GG gewährleisteten Alimentationsprinzip insofern unvereinbar, als die durch sie geregelte Besoldung der Richter und Staatsanwälte der Besoldungsgruppe R 2 mit drei Kindern im Jahr 2013 und mit vier Kindern in den Jahren 2014 und 2015 hinter den Anforderungen an die Alimentation kinderreicher Richter und Beamter zurückblieb.
1. Das zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums zählende Alimentationsprinzip verpflichtet den Dienstherrn, Richter und Beamte sowie ihre Familien lebenslang angemessen zu alimentieren. Er muss ihnen einen Lebensunterhalt gewähren, der ihrem Dienstrang und der mit ihrem Amt verbundenen Verantwortung angemessen ist und der Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards entspricht. Der Besoldungsgesetzgeber hat die Besoldung so zu regeln, dass Richter und Beamte nicht vor die Wahl gestellt werden, entweder eine ihrem Amt angemessene Lebensführung aufrechtzuerhalten oder, unter Verzicht darauf, eine Familie zu haben und diese entsprechend den damit übernommenen Verpflichtungen angemessen zu unterhalten. Deshalb kann bei der Beurteilung und Regelung dessen, was eine amtsangemessene Besoldung ausmacht, die Zahl der Kinder nicht ohne Bedeutung sein.
Das Bundesverfassungsgericht geht auf Grund der bisherigen Praxis des Besoldungsgesetzgebers davon aus, dass er die Grundbesoldung so bemisst, dass sie zusammen mit den Familienzuschlägen für den Ehepartner und die ersten beiden Kinder für eine Zwei-Kinder-Familie amtsangemessen ist. Der zusätzliche Bedarf, der für das dritte und die weiteren Kinder entsteht, ist vom Dienstherrn zu decken. Bei der Bemessung dieses Bedarfs kann der Gesetzgeber von den Leistungen der sozialen Grundsicherung ausgehen. Dabei muss er aber beachten, dass die Alimentation etwas qualitativ Anderes als die Befriedigung eines äußersten Mindestbedarfs ist. Ein um 15 % über dem realitätsgerecht ermittelten grundsicherungsrechtlichen Gesamtbedarf eines Kindes liegender Betrag lässt den verfassungsgebotenen Unterschied hinreichend deutlich werden. Das zur Bestimmung der Mindestalimentation herangezogene Grundsicherungsniveau umfasst alle Elemente des Lebensstandards, der den Empfängern von Grundsicherungsleistungen staatlicherseits gewährt wird, also ins-besondere den monatlichen Regelsatz, die anteiligen Kosten für die Unterkunft und Heizung sowie den Bedarf für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft.
Ob die Dienstbezüge noch amtsangemessen sind, beurteilt sich nach dem Nettoeinkommen. Daher steht es dem Gesetzgeber frei, das von der Verfassung vorgegebene Ziel durch eine entsprechende Bemessung der Bruttobezüge – etwa in Gestalt eines kinderbezogenen Familienzuschlags – zu erreichen, die Richter und Beamten an einem allgemein gewährten Kindergeld teilhaben zu lassen, durch allgemeine steuerrechtliche Vorschriften die durch den Kindesunterhalt verminderte Leistungsfähigkeit auszugleichen oder diese und weitere Möglichkeiten miteinander zu verbinden.
2. Diesen Maßstäben werden die in Rede stehenden Besoldungsvorschriften nicht gerecht. Vergleichsberechnungen zeigen, dass die Besoldung der Richter und Staatsanwälte der Besoldungs-gruppe R 2 in Bezug auf das dritte Kind im Jahr 2013 und in Bezug auf das dritte und vierte Kind in den Jahren 2014 und 2015 den verfassungsgebotenen Mindestabstand von 15 % zur Grundsicherung nicht eingehalten hat. Es wurde nicht einmal der grundsicherungsrechtliche Gesamtbedarf für ein Kind durch die bei steigender Kinderzahl gewährten Nettomehrbeträge ausgeglichen.
II. Den Gesetzgeber trifft die Verpflichtung, die Rechtslage verfassungsgemäß umzugestalten. Eine allgemeine rückwirkende Behebung des Verfassungsverstoßes ist mit Blick auf die Besonderheiten des Richter- und Beamtenverhältnisses nicht geboten. Eine rückwirkende Behebung ist jedoch sowohl hinsichtlich der Kläger der Ausgangsverfahren als auch hinsichtlich etwaiger weiterer Richter und Staatsanwälte erforderlich, über deren Anspruch noch nicht abschließend entschieden worden ist.
Beschluss vom 04. Mai 2020
(2 BvL 6/17, 2 BvL 8/17, 2 BvL 7/17)